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Makedonikos Agonas - Ein Meilenstein in der neugriechischen Geschichte

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Die Neugriechen sind nicht ein „geschichtsloses Zwergvölklein“ Südosteuropas, wie Marx und Engels seinerzeit meinten, sondern eine historische Nation. Die Geschichtsverbundenheit der Neugriechen, die oft zugleich „Geschichtsgeschlagenheit“ war, prägte ihr Nationalbewusstsein. Die Identitätsbildung des neuen Griechentums erfolgte und erfolgt dabei sowohl im Zeichen des Gefühls der historischen Kontinuität als auch in demjenigen der Spannung zwischen dem Wechsel fremder Einflüsse (oder Bedrohungen) und der beharrenden Kraft eigenen Lebens. Schon deshalb ist dieser Prozess nie abgeschlossen. Er ist stets Findung und neue Suche. Die „Geschichtsgeschlagenheit“ offenbart sich u.a. in der Auseinandersetzung des neuen Griechentums mit der leidigen Makedonienfrage. Diese Frage löste in der mit der Auflösung Jugoslawiens begonnenen Phase sogar eine eigentliche Krise in Südosteuropa aus.

Makedonien ist ein geographischer Begriff. Das Gebiet war lange Zeit Teil des Osmanischen Reichs. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde Makedonien teils wegen der Gemengelage der Nationalitäten, teils wegen der strategischen und ökonomischen Bedeutung der Region zum klassischen Beispiel innerbalkanischen nationalistischen Irredentismus. Griechen, Bulgaren und Serben machten Ansprüche auf den Zankapfel Makedonien geltend. Die 1893 ins Leben gerufene bulgarische “Innere Makedonische Revolutionäre Organisation“ (IMRO oder VMRO) führte dort den Untergrundkampf mit autonomistischen Parolen. Die Losung der Schaffung eines ungeteilten autonomen Makedonien war mit sozialistischen Vorstellungen verknüpft. In den Augen bestimmter bulgarischer Politiker war allerdings das Autonomiepostulat bloß ein taktisches Mittel zur leichteren Erreichung des Großbulgarienziels. Im Laufe der Zeit jedenfalls - vor allem nach der Bildung des “Obersten Makedonischen Komitees“ in Sofia im Jahr 1895 - geriet die Agitation der Untergrundkämpfer, der sogenannten Komitadschi, immer mehr ins Fahrwasser des Großbulgarien-Nationalismus.

Das Großbulgarienideal hatte durch den russisch-türkischen Präliminarfrieden von San Stefano (1878) Auftrieb erhalten, der die Schaffung eines großbulgarischen Reichs vorsah. Wenige Monate später wurde aber das “Bulgarien von San Stefano“ durch die Beschlüsse des Berliner Kongresses in mehrere Teile zergliedert. Dabei wurde ein der Pforte tributpflichtiges Fürstentum Bulgarien gegründet, das Nordbulgarien und das Gebiet um Sofia umfasste. Südbulgarien erhielt den Status einer autonomen Provinz (Ostrumelien) unter türkischer Verwaltung. Der Türkei wurde ein breiter Gebietsstreifen einschließlich Makedoniens zurückgegeben. An Serbien und Rumänien fielen einige Randgebiete. Die Bulgaren empfanden die Beschlüsse des Berliner Kongresses als ungerecht, und dies schuf ein für die nationalistische Agitation günstiges Klima. 1885 brach in Ostrumelien ein Staatsstreich aus. Die Putschisten proklamierten die Vereinigung mit dem autonomen bulgarischen Fürstentum.

Der Untergrundkampf der Komitadschi in Makedonien ist vor dem Hintergrund der Tradition dieses Großbulgarien-Nationalismus zu sehen. Durch dieselbe Zielsetzung war auch die Tätigkeit bulgarischer Lehrer und Geistlicher in der Region geprägt, zumal das bulgarische Exarchat seit seiner Gründung im Jahr 1870 kirchliches Wirken und Nationalpolitik miteinander verband. Die Aktivität der bulgarischen Nationalisten stieß auf den Widerstand serbischer Freischärler (Cetniki = Tschetniks) und griechischer Irredentisten. Der “makedonische Kampf“ (“Makedonikos Agonas“) lief auf hohen Touren. Griechischerseits spielte im 19. Jahrhundert die “Nationale Gesellschaft“ (“Ethniki Etäria“), im 20. Jahrhundert das “Makedonische Komitee“ (“Makedoniko Komitato“) eine aktive Rolle.

Der hellenische Kampf um Makedonia (Makedonien/Mazedonien) brachte Gestalten - unter ihnen auch slawophone Griechen - hervor, die in Griechenland als Nationalhelden verehrt werden. Zu ihnen gehört Pavlos Melas, ein griechischer Offizier, der 1904 in Makedonien während eines Gefechts mit den Türken tödlich verletzt wurde. Am Makedonikos Agonas beteiligte sich auch der Intellektuelle und Politiker Ion Dragoumis (Idas) (1878-1920). Die Jugendbuchautorin Pinelopi S. Delta (1874-1941) verherrlichte in ihrem Werk den Kampf gegen die Bulgaren. Österreichisch-russische Interventionen beim Sultan führten1903 zum “Wiener Programm“, das bestimmte Reformen in Makedonien vorsah und vom Sultan akzeptiert wurde. Das verhinderte nicht den großen IMRO-Aufstand am Eliastag (Illinden), am 20. Juli/2. August 1903. Der Illinden-Aufstand bewirkte einen neuen Reformplan, das Mürzsteger Programm. Aber diese Reformpolitik innerhalb des Status quo kam nicht zum Tragen. An der Ohnmacht der osmanischen Staatsgewalt in Makedonien entzündeten sich zuerst die jungtürkische Revolte in Thessaloniki im Jahre 1908 und später der Erste Balkankrieg, bei dem die christlichen Verbündeten wegen der Makedonienfrage weitgehend auch Antagonisten waren. Letzteres galt insbesondere für die Griechen und die Bulgaren, zumal der große griechische Staatsmann Eleftherios Venizelos (1864-1936) aus guter Einschätzung der Konstellation der Kräfte die Frage der Gebietsaufteilung offen gelassen hatte. Für einen Teil des Griechenvolkes blieb der Makedonikos Agonas lange Zeit erlebte Geschichte und prägte die späteren Entwicklungen. 1903, im Jahr des Illinden-Aufstands, begann z.B. Georgios Karamanlis, der Vater des Staatsmanns Konstantinos Karamanlis (1907-1998), in Kerdyllia in Makedonien als Lehrer zu arbeiten. Er trat einer hellenischen nationalen Organisation bei. 1904 wurde er durch die Türken vom Lehramt abgesetzt. Konstantinos Karamanlis wurde in Kiupkioi (heute Proti) geboren. Formalrechtlich war er damals Untertan des Osmanischen Reichs. Erst 1913 wurde er hellenischer Staatsbürger (vgl. Pavlos Tzermias, “Konstantinos Karamanlis, Versuch einer Würdigung”, Mit einem Vorwort von Helmut Schmidt, Tübingen 1992, S. 15 ff.)

Der nach den Balkankriegen im Frieden von Bukarest Griechenland zugeschlagene Teil Makedoniens wurde während des Ersten Weltkrieges zum Spielball der Kriegführenden. Im Herbst 1915 landeten Entente-Truppen in Thessaloniki. 1916 besetzten die mit den Mittelmächten verbündeten Bulgaren das griechische Ostmakedonien und betrieben eine Ausrottungspolitik. 1917 war der damals zehnjährige Konstantinos Karamanlis in seinem ostmakedonischen Dorf Zeuge, wie die Bulgaren seinen Vater als Geisel nahmen. Georgios Karamanlis war schon während des Ersten Balkankrieges mit den Bulgaren in Konflikt geraten. Im Zweiten Balkankrieg wäre er durch einen bulgarischen Offizier beinahe festgenommen worden, doch der “Erbfeind“ hatte im letzten Moment mit dem weinenden sechsjährigen Kostas (Konstantinos) Mitleid. Anderthalb Jahre war Georgios Karamanlis Geisel der Bulgaren. Die Erlebnisse des kleinen Konstantinos Karamanlis zeigen, welchen Stellenwert der Kampf um Makedonien im neugriechischen Nationalbewusstsein einnimmt. Trotz der bitteren Erfahrung seiner Kindheit wurde Karamanlis nicht zu einem intransigenten Nationalisten. Als Staatsmann legte er vielmehr auf die Zusammenarbeit der Balkanvölker großes Gewicht. Er wurde zum Architekten des Beitritts Griechenlands zur damaligen Europäischen Gemeinschaft, zum Befürworter eines übernationalen Ideals. Dadurch ließ jedoch die Verbundenheit mit seiner engeren Heimat keineswegs nach.

Man schätzt, dass sich infolge des in Lausanne 1923 vereinbarten obligatorischen Bevölkerungsaustausches rund eine Million kleinasiatische Griechen in Makedonien niederließen. Danach konnte daher, was den hellenischen Teil der geographischen Region Makedonien betrifft, von einem Völkergemisch nur sehr bedingt die Rede sein, zumal der freiwillige griechisch-bulgarische Bevölkerungsaustausch (Vertrag von 1919) vorausgegangen war. Es gab zweifelsohne Minderheiten sprachlicher, religiöser oder zum Teil auch ethnischer Natur. Es gab slawophone bzw auch slawophone - d.h. zweisprachige - griechische Bürger. Es gab die zahlenmäßig starke jüdische Gemeinde in Thessaloniki, die vor allem durch die Ansiedlung vieler von der Iberischen Halbinsel vertriebener Juden (Sephardim) im 15. Jahrhundert entstanden war und während des Zweiten Weltkrieges dem von den Nazis durchgeführten Genozid (Deportation von ca. 46 000 Juden in die oberschlesischen Vernichtungslager) zum Opfer fiel. Es gab Spannungen, so etwa zwischen antisemitischen griechischen Rechtsextremisten und der jüdischen Gemeinde. Der weitaus größte Teil der Bevölkerung des hellenischen Makedonien fühlte und fühlt sich aber, was auch seine “hämatologische“ Abstammung sein mag, griechisch. Die Reinheit des Blutes der Völker ist ein Mythos. Es kommt auf das Selbstverständnis an, und dieses bürgt für die eindrucksvolle nationale Homogenität jenes Teils Griechenlands, der traditionsgemäß seit Jahrtausenden Makedonien heißt.

Im Beitrag skizziert der international bekannte Historiker Pavlos Tzermias eine wichtige Phase der neugriechischen Geschichte. Er stützt sich dabei auf sein Buch “Die Identitätssuche des neuen Griechentums, Eine Studie zur Nationalfrage mit besonderer Berücksichtigung des Makedonienproblems”, Freiburg Schweiz 1994. In diesem Werk setzt sich der Autor mit der „Makedonentum“-Doktrin Skopjes auseinander, die auf einer geschichtswidrigen Fiktion beruht. Die besagte Doktrin macht aus einem geographischen Begriff einen solchen der nationalen Identität. Diese These, die einer jahrtausendelangen Entwicklung krass widerspricht, ist ein Instabilitätsfaktor in Südosteuroopa. Die internationale Gemeinschaft sollte sich ihr daher widersetzen und somit zum friedlichen Zusammenleben aller Balkanvölker beitragen.